Rhetorik-Blog: Der Grunewald-Rat oder Wie der Käse unter die Eiche kam
Warum Kommunikation oft schiefläuft
… vermittelt Ihnen die Fabel vom Grunewald-Rat, in der es um Käse und dicke Luft geht.
… vermittelt Ihnen die Fabel vom Grunewald-Rat, in der es um Käse und dicke Luft geht.
Eifrig stellte Frau Hüsch vor Ihrem großen Auftritt ein – für ihre Verhältnisse – großes Holzgestell auf. Bestückt mit Ahornblättern, auf denen sie alles Wichtige mit einem Stückchen Kohle zusammenfasste. Und so huscht sie nun zwischen Aufzeichnungen und Ahornblättern hin und her: einerseits referierend – andererseits Ahornblätter umblätternd.
Ihr Vortrag beginnt bei den grundsätzlichen Lebensunterschieden zwischen Veganern und Nichtveganern, vertieft den Herstellungsprozess von Käse (was viele auf der Plenarlichtung als besonders widerlich empfinden) – und ruft sogar Statistiken über den Käsekonsum im Grunewald auf (der aufgrund eines gewissen Käsemangels nahe null liegt).
Mit bebender Unterlippe und zitternder Stimme hebt sie an: „Sehr verehrter Herr Ratspräsident, sehr verehrter Schriftführer – Herr Gru –, sehr verehrter Vorsitzender der Käse-Expertenrunde – Herr Waldheim –, liebe Kolleginnen und Kollegen der Expertenrunde, geschätzte Mitglieder des Grunewald-Rates. Zunächst ein herzliches Dankeschön dafür, dass Sie so zahlreich zur heutigen Sitzung erschienen sind – trotz eines Themas, das wohl nicht alle in unserer Runde sonderlich interessieren dürfte.
Bevor ich zu meinen eigentlichen Ausführungen komme, möchte ich zunächst die Ausgangssituation zusammenfassen – um dann ein paar allgemeine Ausführungen zum Thema Käse an sich zu machen. Darauf aufbauend würde ich gern die unterschiedlichen Interessenlagen bezüglich des gestern vorgefundenen Käses beleuchten, eine konkrete und für alle sinnstiftende Käsestrategie entwickeln – woraus sich schließlich praxisnahe Vorschläge ergeben, wie man hinsichtlich der Käseproblematik weiter verfahren könnte.“
Die entgeisterten Blicke im Publikum während dieser ersten Sätze kann die engagierte Frau Hüsch nicht wahrnehmen: Zu sehr liebt sie ihre eigenen Worte, die sie in mühevoller Kleinarbeit des Nachts zusammentrug.
Ein Schlückchen Wasser aus einer Haselnussschale, ein Blick in die Runde, ein Räuspern.
Frau Hüsch hat sich viel vorgenommen: Vor ihr, auf einem Steinchen, liegt ein gehöriger Stapel beschriebener Birkenblätter. Schon früh am Morgen, vor allen anderen Ratsmitgliedern, erschien sie auf der Lichtung, um im Geiste ihren Vortrag durchzugehen. Schließlich war sie nie zuvor so wichtig wie heute, immerhin wurde Sie von der Käse-Expertenrunde mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, zu referieren und Vorschläge zu unterbreiten …
Nun ja – „betraut“ mag etwas hoch gegriffen sein: Fräulein von Linné fühlte sich gestern plötzlich nicht, Ameise 08/15 hatte einen unaufschiebbaren Termin mit ihrer Königin, Herr Suhlemann wichtige Dinge zu erledigen – Herr Waldheim gab Frau Hüsch ein paar Ratschläge, um darauf zu verschwinden. Und Herr Burgfrieden? Der hatte angeblich ein Rendezvous mit einer fetten Henne …
Wie dem auch sei: Frau Hüsch grübelte und überlegte, recherchierte und arbeitete aus – die ganze Nacht. Und jetzt war er da, der große Moment …
„Uns!“, ruft da jemand.
„Lasst dem Bauern sein Käse!“, entgegnet Frau Hopp.
„Bringen wir den Käse in Sicherheit“, ist zu hören.
„Einfach nicht beachten – der Bauer kommt bestimmt bald zurück.“
„Fortschaffen!“
„Und wenn der Bauer sieht, dass eine Ecke fehlt? Der wird fürchterlich wütend sein.“
„Was denn überhaupt für ein Bauer?“
„Genug!“, ruft der Redebär – der Diskussion überdrüssig. „Die Expertenrunde soll sich eingehend beratschlagen. Und morgen konkrete Vorschläge unterbreiten, über die wir abstimmen können. Aber bitte: Strukturiert. Ich schließe hiermit die Sitzung. Wir wollen doch alle noch etwas vom Tag haben. Und das mir keiner an den Käse geht. Frau Katteker: Bitte haben Sie ein Auge drauf.“
Herr Gru verschafft seinem Ärger Luft: „Das ist und bleibt schändlich. Zwar bin ich kein Käseliebhaber. Aber ein Freund von Recht und Ordnung. Dass einfach jemand ein Stück Käse veruntreut …“
„Wie kann ein Schnück Knäse veruntneut werden, wenn de’ Knäse keinem gehört?“
Schlagartige Ruhe legt sich über die Lichtung. Alle Köpfe drehen sich zu Monsieur Castor, dessen Vorfahren vor langer Zeit aus Frankreich einwanderten.
Der Biber knabbert gelassen an einem Ästchen und nuschelt: „Waasch? Isch ja nur scho eine Frage.“
„Aber der Käse gehört doch jemandem. Einem Bauern, einer Käsefabrik – oder uns …“
„Grunz.“
„Jenau.“
Was für ein Skandal: Die nachmittägliche Sitzungsverlängerung beginnt wie der Vormittag endete – mit Aufruhr und Durcheinandergebrabbel. Die einen äußern ihren größer werdenden Unmut über eine in ihren Augen Endlosdiskussion wegen einer Nichtigkeit – die anderen erheben Käse zum wichtigsten Thema auf Erden. Die übernächsten sind dem Thema gegenüber eher neutral eingestellt, echauffieren sich aber trotzdem: Das Verschwinden der Käseecke sei etwas dreist.
„So. Und jetze? Jetz steh’n wa dumm rum und kieken den Käse an?“
„Wir sind schließlich die Experten, die per Abstimmung vom Rat gewählt wurden, um die Lage in Augenschein zu nehmen“, entgegnet Frau Hüsch dem Ratz neunmalklug.
„Mensch, Vaehrteste, wir kieken uff ’n Käse, vastehnse? ’n KÄSE! Ick weeß jar nich, wat et hia ssu sondian jibt. Ran da und jut is.“
„Grunz.“
„Jenau. Wia sind de Experten weil die meisten andern Veganer sind. Ufftailn – und ab nach Hause.“
„Momentchen, Momentchen – nur nicht so überstürzt. Wir sind im Auftrag des Rates hier – und wir sollen …“
„Quiek! Ist Ihnen aufgefallen, dass sich da schon jemand bedient hat? Ganz unten, sehen Sie? Da fehlt eine Ecke!“
„Grunz.“
„Jenau.“
„Und nun?“
„Größer als gedacht.“
„Röhrig hat ziemlich untertrieben.“
„Gigantisch!“
„Durchaus lukrativ für alle, die an einem Happen interessiert wären.“
Da steht sie nun, die Expertenrunde. Vor dem Käse. Hin- und hergerissen zwischen dem Unvermögen jedes Einzelnen in der Runde, den Käse allein abzutransportieren, Futterneid und der Verpflichtung, dem Grunewald-Rat zu berichten. Tatsächlich liegt vor Fräulein von Linné, Frau Hüsch, Ameise 08/15 nebst Begleitung (sie ist wirklich nur ungern allein), Herrn Suhlemann, örtlicher Anführer einer größeren Wildschweinrotte, Herrn Waldheim und Herrn Burgfrieden ein wahrlich riesiger Käse. Auch mit menschlichen Maßstäben betrachtet. Ein Käserad wie aus dem Bilderbuch.
Schüchtern meldet sich Frau Hopp zu Wort, eine Häsin in den besten Jahren und Mutter einer Großfamilie: „Wie Sie sich denken können, sind der Herr Hesse und ich meist nicht einer Meinung. In diesem Falle muss ich ihm aber unbedingt recht geben.“
„Wir mögen Menschen, quiek, auch nicht sonderlich. Aber, grunz, einem Stückchen Käse gegenüber wären wir, quiek, nicht abgeneigt.“
Der Redebär, sichtlich genervt ob der Meinungsvielfalt, die größer nicht sein könnte, verdreht die Augen und fährt sich mit einer Tatze übers Maul. „Also: Stellen wir eine Gruppe zusammen. Die macht eine Exkursion zur Eiche, begutachtet die Lage – und heute Nachmittag soll sie uns berichten und Vorschläge unterbreiten, was mit dem Käse zu tun ist.“
„Aba, aba, Herr Kolleje, det aus Ihrem Munde? Ick hätt jedacht, Sie ham mehr Schneid. Ick füa main Tail – und wenn ick ooch mal für Frau Hüsch schpreschen dürfte: Menschen sind zwar nich sonderliche Sympathieträjer – aber wat det aingne Aus- und Einkomm’ anjeht, da sind se doch janz praktesch.“ In diesem Moment denkt sich Frau Hüsch, dass Herr Waldheim eigentlich doch ein recht netter Kerl ist: ‚… und immer so geradeheraus.’
Herrn Waldheim ist die Frage sichtlich peinlich – und umgeht sie mit gespielt grüblerischer Miene: „Ooch ick muss mir ersma ’n Übablick vaschaff’n, wa. Wie wäre et denn, wenn wa ma alle jeschlossen rüba ssur Aische marschier’n? Manchmal soll ja ooch ’n Blick innt Jelände helfen …“
„Menschenwerk! Käse ist Menschenwerk!“, knurrt aus der hintersten Reihe mit einem Male Herr Hesse, der einzige Wolf im Grunewald. „Lasst ihn dort, wo er ist. Lasst die Pfoten und Schnäbel von ihm. Ist er von einem Bauern dort vergessen worden, wird der bald an der Eiche wieder auftauchen, um seinen Käse zu holen. Wir hatten immer unsere Ruhe. Und wenn wir Menschendinge unbeachtet lassen, wird es auch so bleiben.“
„Also gut“, grübelt der Redebär, „jeder hat seine eigene Meinung – wir benötigen allerdings eine objektive Einschätzung der Lage … Herr Waldheim, Sie sind ein Experte auf diesem Gebiet. Haben Sie den Käse ebenfalls schon begutachtet?“
Neben Herrn Waldheim, Anführer einer nie gezählten Rattenschar, fühlt sich Frau Hüsch in diesem Moment durchaus berechtigt kleingehalten (‘Pöh! Der und Experte …’). Denn als Maus glaubt sie von sich, die eigentliche Expertin zu sein: feinsinniger, im Umgang mit Käse sehr viel erfahrener als dieser in ihren Augen unkultivierte Schnösel.
Fräulein von Linné, die sich als stolze Aaskrähe üblicherweise nie das letzte Wort nehmen lässt (erst recht nicht von ignorantem Rotwild), will sich aufplustern – als der Redebär dazwischenfährt: „Es scheint, als wäre der Käse bereits in aller Munde. Als hätte das Thema weit weniger Neuigkeitswert als eben vorgegeben.“
Fräulein von Linné zieht jetzt durch: stellt ihre Federn auf, schüttelt sich – und hinterlässt hinter dem Baumstumpf, auf dem sie sitzt – von allen unbemerkt –, einen klebrigen Klecks der Wut.
„Jene Quelle unermesslichen Dufts? Ist die Eiche nicht in dieser Form ein Hort der Inspiration, ein …?“
„… Hort der Völlerei wohl eher – das ist es doch, was Sie meinen, Sie Nebelkrähe! Wollen sich mit Ihresgleichen die Bäuche vollhauen – ohne Rücksicht auf empfindliche Riechorgane. Rollen Sie den Käse an den Waldrand. Da können Sie in aller Ruhe schlemmen.“
„Na, na“, ruft der örtliche Platzhirsch, „lasst mal den Kessel am Bach. So groß ist der Käse nun auch wieder nicht. Aber dafür sein Gestank unerträglich. Wer kann sich da in Ruhe den Hintern an der Eiche reiben?“
„Seit wann schubbern Sie sich Ihren Hintern an meiner Eiche, Herr Röhrig?!“ Frau Katteker ist entsetzt. „Und ich trage dann Ihren am Stamm hängengebliebenen Dreck in meinen …“
„Ach, Mumpitz! ‘Meine Eiche, meine Eiche’ – Sie halten nur eine ehemalige Nisthöhle von Frau Hammerschmid in Beschlag. Von wegen: ‘Kobel!’ Aber egal – wichtig ist, dass diese Quelle unerträglichen Gestanks aus dem Wald verschwindet.“
Da ist Herr Burgfrieden, der alte Fuchs, anderer Meinung: „Nein, nein, nein“, säuselt er. „Liegt ein solcher Fall erst einmal auf dem Tisch, kann man nicht einfach wieder zurück in den Bau, um das Winterschläfchen etwas zu verlängern. Wie groß ist der Käse, Frau Katteker?“
„Riesig.“
„Gigantisch!“, zeigt sich Ameise 08/15 beeindruckt, worauf ihre fünf Begleiterinnen (ohne Stimmrecht – aber allein fühlt sich 08/15 nicht wohl) eifrig zustimmen: „Wir haben ihn heute Morgen auch schon entdeckt – und gleich bei Ihrer Königlichen Hoheit Bericht erstattet. All unsere Versuche, den Käse mit vereinten Kräften fortzuwuchten, müssen als gescheitert eingestuft werden.“
„Das ist etwas wenig. Wenn Sie ein Problem vorbringen, dann brauchen wir mehr Informationen“, insistiert der Präsident – worauf Frau Katteker mit verschämtem Blick versucht, sich mit dem eigenen Schwanz Schatten zu spenden: „Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt ein Problem ist …“
„Zahlen! Daten! Fakten! Frau Katteker – bitte!“, trötet der Kranich, Herr Gru, voller Ungeduld. „Wir müssen schließlich einordnen können, worüber wir reden …“
„Es ist ja gar nicht so wichtig – wir können doch alle nach Hause …“
„Rrruuu-hä!“, brüllt der Redebär. „Meine Damen, meine Herren: Contenance. Wir sind hier nicht auf einem Makakenhügel.“
Nur langsam, widerwillig beruhigen sich die Gemüter: Wer nie etwas auszudiskutieren hatte, sucht verständlicherweise nach einem Ventil für Worte, Ansichten und Ideen …
„Sondieren wir die Lage. Frau Katteker: Schildern Sie uns detailliert Ihre Beobachtungen.“
„Beobachtungen? Es liegt eben ein Käse unter meinem Kobel.“
Während der Redebär verdutzt die Information zu verarbeiten sucht (‘Käse?’) – ruft das Plenum bereits im Chor: „Käse?“
Staunende Augen, aufgerissene Mäuler und Schnäbel bestätigen dem zotteligen Vorsitzenden: Der Honigtopf wird warten müssen. Dann: Geraune, Geplapper, Gequieke, Geschnatter – zu hören sind aufgeregte Sätze wie: „Hast du den schon gesehen?“, „Ich war schon lang nicht bei der Eiche …“, „Welche Eiche?“, „Was denn für eine Sorte?“, „Wo der wohl herkommt …“, „Igitt!“, „Käse – das interessiert doch keinen!“
Seinen mittäglichen Honigtopf vor Augen, ahnt der vom Winterschlaf noch etwas Ermattete bereits, dass die Sitzung länger dauern könnte als üblich – und murrt: „Was gibt es, Frau Katteker?“
„Herr Präsident, gleich neben meiner Eiche liegt seit heute Morgen ein Käse.“
Stille. In der Ferne ist trommelnd Frau Hammerschmid zu hören – mit ihrem Schnabel in der Rinde nach Essbarem stochernd.
So auch dieses Mal: Gelangweilt sitzen die zwei Dutzend Angehörigen des hohen Rates im Rund einer kleinen Lichtung. Die Sonne spendet bereits etwas Wärme – einige Tiere behaupten, sie könnten schon den Frühling riechen.
Der Redebär – warum dieser Spitzname, weiß niemand, denn große Reden brauchte er ob beschriebener, stets beschaulicher Umstände nie zu halten – will schon in seiner Funktion als Ratspräsident mit seinem Glöckchen die Versammlung mit gebrummter Feststellung: „Also auch unter ‘Verschiedenes’ keine Anliegen, Anmerkungen oder Ähnliches? Dann können wir ja wieder heim“, schließen – als sich ein Eichhörnchen zu Wort meldet …
Seit Ewigkeiten nimmt die Natur im Grunewald ihren Lauf. Zumindest dort wo der Wald am dichtesten ist, wohin sich nur selten Menschen verirren und wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Endlos lange schon herrscht Ruhe – eine solche, dass keines der Tiere im Wald, fragte man, wohl wüsste, ob jemals etwas den Gang der Dinge gestört hätte. Oder ob der Grunewald-Rat, das Parlament der im Wald lebenden Tiere, wegen einer drängenden Frage irgendwann eine wichtige Entscheidung hätte treffen müssen.