Rhetorische Krisen – einmal soziologisch betrachtet
Rhetorische Krisen – was ist das eigentlich? Krisenkommunikation beschäftigt sich häufig mit PR im Kontext von Havarien oder Straftaten. Hierzu gibt es eine Fülle von Ratgebern und wissenschaftlicher Literatur. Doch wie sich verhalten, wenn Teilöffentlichkeiten heftig über Werte und Normen streiten? Und man beispielsweise als Unternehmen zwischen die Fronten gerät? Lohnenswert erscheint ein soziologischer Blick auf rhetorische Krisen …
1 Rhetorische Krisen – Definition
Es bietet sich an, zunächst den semantischen Kern des Wortes Krise freizulegen. Aus dem Altgriechischen (krínō/krínein) stammend, lässt er drei definitorische Stränge zu: im Sinne des „Unterscheidens“ als kritische Urteilskraft und analytisches Deuten, in der Übersetzung als „Ausscheiden“ im Sinne einer Auswahl, die Höherwertiges von Minderwertigem trennt, schließlich als „Entscheiden“ und Ergebnis einer Auseinandersetzung (vgl. Goeze / Strobel, 2012, S. 511-512). Agonale Kräfte streiten demnach in einer Krise über Ungewisses, verhandeln Wahrscheinlichkeiten (vgl. ebd., S. 513). In einer Krise steht nicht Faktisches, Wahrhaftiges im Mittelpunkt – über welches nicht zu streiten lohnte. Vielmehr ist Geschehenes der Grund für widerstreitende Bewertungen und Einordnungen dessen mit Blick auf die Zukunft; Krisen nähren sich aus Evidenzmangel und Handlungszwang (vgl. ebd.): „Die rhetorische Krisensituation ist eine öffentliche, häufig medial vermittelte und gestaltbare Umbruchsituation, die sowohl einen längeren Prozeß als auch einen Wendemoment meint, von dem aus durch Akzeptanz-, Vertrauens- und Legitimations-, kurz: Zustimmungsmangel in nicht wahrheitsfähigen Sachfragen ein unhinterfragtes ‚Weiter so‘ für eine Gemeinschaft keine Option mehr darstellt.“ (Goeze / Strobel, 2012, S. 513)
Wenn nun rhetorische Kommunikation laut Gutenberg die Intentionalität, Zweck-Mittel-Reflexion und theoretisches Regelwissen des Senders/des Sprechenden umfasst (vgl. Gutenberg, 2001, S. 135), präsentiert sich obige Definition als passend für das Handlungsfeld der Unternehmenskommunikation. Den Ausführungen von Goeze / Strobel weiter folgend, kristallisieren sich in Anlehnung an Aristoteles als bedroht wahrgenommene Werte heraus, die rhetorische Krisensituationen determinieren: Ist etwas gerecht oder ungerecht? Nützlich – schädlich (vgl. Goeze / Strobel 2012, S. 514)? Gedanklich führt all das weg von Krisen in Form von Naturkatastrophen, Havarien oder Ähnlichem. Rhetorische Krisen geraten dafür in das Blickfeld, die sich aus Wahrnehmungen und Bewertungen von Werten und Institutionen durch unterschiedliche Akteure ergeben.
2 Rhetorische Krisen – Verlauf und Ursachen
Während sich jene widerstreitenden Kräfte auch im Begriff „Issue“ wiederfinden – als „Phänomen der öffentlichen, kontroversen Diskussion über ein gesellschaftspolitisches, soziales oder allgemein öffentliches Anliegen“ (Ingenhoff, 2004, S. 41) –, schenkte einst Niklas Luhmann dem Prozess seine Aufmerksamkeit, den ein solches Anliegen durchläuft, indem er schrieb, dass „politische Themen im strukturellen Rahmen des politischen Systems nicht beliebig erzeugt und entwickelt werden können, sondern eine Art Lebensgeschichte haben, die, wie das Leben selbst, verschiedene Wege gehen und vorzeitig abgebrochen werden kann, gleichwohl aber nach typischen Phasen geordnet ist.“ (Luhmann, 1970, S. 14)
In der Folge entstanden variierende Vorstellungen von solch einem Lebenszyklus: Ein Beispiel ist dessen Darstellung von Ingenhoff in Anlehnung an Köcher / Birchmeier (s. Abb. unten; vgl. Ingenhoff, 2004, S. 46). Zusammengefasst beschreibt Ingenhoff die Lebenszyklusphasen folgendermaßen (vgl. ebd., S. 47-48): Ist in der Latenzphase der Sachverhalt nur einzelnen Personen oder Gruppen bekannt, erhält er in der zweiten (Emergenzphase) eine erste Öffentlichkeit durch weitere Gruppen oder Personen. Von Massenmedien und Meinungsführern (z. B. Politikern) gestützt, nimmt die Issue-Relevanz in der dritten Phase (Aufschwungphase) weiter zu, häufig durch Simplifizierung und Polarisierung. In der vierten, der Reifephase, drängen Teilöffentlichkeiten auf eine Problemlösung – spätestens jetzt kann das Unternehmen nicht mehr auf das Issue einwirken; es ist gezwungen, sich der neuen Situation anzupassen oder eigenes Verhalten zu verändern. Kehrt man gedanklich zur Definition von Goeze / Strobel zurück, liegt nun der Charakter der eigentlichen rhetorischen Krise vor. Zuletzt nimmt aufgrund gefundener Lösungen das Interesse in der Abschwungphase am Issue ab, was sich aber jederzeit durch ähnlich gelagerte Issues ändern kann. Festzuhalten bleiben: die von Luhmann und Ingenhoff (vgl. 2004, S. 46) gleichermaßen festgestellte Unvorhersagbarkeit realer Lebenszyklen sowie die von Ingenhoff beschriebenen im Zeitverlauf geringer werdenden Einflussmöglichkeiten aufgrund zunehmender Quantität der an der Diskussion Beteiligten.
Damit zurück zum Diskussionsgegenstand: Die Einhegung der Begriffe Werte und Institutionen dürfte eine weitere Annäherung an rhetorische Krisen ermöglichen. Beklagen NGOs, Akteure Sozialer Netzwerke oder Massenmedien (vermeintliche) Unternehmensverfehlungen oder Verfehlungen politisch Handelnder, bedeutet dies: Verschiedene Individuen/Gruppen nehmen bestimmte Handlungen (auch als Kommunikationen zu verstehen) eines Unternehmens und/oder Personen wahr, definieren und artikulieren diese als deviantes, als abweichendes Verhalten – in Zusammenhang mit der Forderung nach dessen Änderung, Einstellung und/oder Sanktionierung. Was aber können solchen Forderungen zugrunde liegende Vergleichsmaßstäbe sein?
Hier stoßen wir auf Werte als allgemeinste Grundprinzipien der Handlungsorientierung (vgl. Schäfers, 2003, S. 36). Oder als Absicherung einer Gesellschaft gegenüber dem Opportunismus des Menschen und externen Effekten, die eine soziale Organisation und deren Struktursystem gefährden könnten, wie Esser ausführt (vgl. 1999 a, S. 463). Solche Standards des Wünschenswerten als Wertsystem – als Moral – ist individuellen Interessen als Maßstab übergeordnet und schlägt sich zum Beispiel in modernen Verfassungen nieder (vgl. Esser 1999 b, S. 135; vgl. Schäfers, 2003, S. 36). Gleichwohl sind Werte nicht in Stein gemeißelt: Gesellschaftliche Differenzierung und sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen (z. B. Abnahme der Bedeutung von Religion) verändern die Stellenwerte von Werten; neue können hinzutreten (vgl. Schäfers, 2003, S. 37). Esser erklärt das damit, dass angesichts gegebener materieller und sozialer Bedingungen die höchste Plausibilität und der maximale Grad an Sinngebung für die Auswahl von Werten entscheidend seien (vgl. Esser, 1999 a, S. 464).
Mit dem Stichwort „Verfassung“ wurden bereits Institutionen angesprochen: als Regeln innerhalb einer Gruppe, in der jeder diesen Regeln folgt und in der jeder wiederum von anderen das Befolgen der Regeln erwartet (vgl. Schotter, 1981, S. 11; vgl. Esser, 2000, S. 10). Max Webers Trennung der Bräuche (neues Verhalten betreffend) von Sitten (Hergebrachtes) und deren Steigerungen in Form von Konventionen und schließlich Recht (äußerlich garantierte Regel) (vgl. 1976, S. 15) verdeutlicht den Wandel gewisser Regelmäßigkeiten sozialen Handelns zu Regeln – im Zuge dessen Stück für Stück die Erwartung dem Anspruch und dieser schließlich der Unbedingtheit weicht. Gesetze belegen am sinnfälligsten die Idee von Normen als herausragende – weil im Falle des Verstoßes gegen sie negativ sanktionierbare – Institutionen (vgl. Esser, 2000, S. 10). Moral als Wertsystem fundiert demnach Institutionen, die ihrerseits in variierenden Zusammensetzungen und Komplexitäten im Zusammenspiel variierender Sanktionsmöglichkeiten und -intensitäten regelnde, organisierende Kraft in einer Gruppe oder Gesellschaft entfalten.
Wird nunmehr das Handeln eines Unternehmens (oder Politikers) von Individuen oder Gruppen kritisiert, bedeutet das: Das Handeln wird mit bestimmten Werten und Institutionen verglichen, die für die Kritisierenden Gültigkeit haben. Wenn Werte und Institutionen aber Handlungen erst ihren Sinn verleihen (vgl. Esser, 2000, S. 34), bedeutet dies konkreter und im Falle als deviant (abweichend) bewerteter politischer Handlungen oder Unternehmenshandlungen: Von Kritisierenden müssen im Unternehmen (auf Seiten der/des Politiker/s) als gültig erachtete Werte oder/und Institutionen vermutet/unterstellt werden, die von ihren eigenen abweichen. Was bedeuten kann: Entweder interpretieren und bewerten verschiedene Akteure/Gruppen (einerseits das Unternehmen/Politiker andererseits die Kritisierenden) auf unterschiedliche Art bestimmte Handlungen hinsichtlich ihres Sinns und möglicher Konsequenzen. Und/oder es existieren unterschiedliche Erwartungen bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintretens und des Ausmaßes möglicher Sanktionen der Handlungen. Hierin steckt letztlich der Keim für rhetorische Krisen.
3 Rhetorische Krisen meistern
Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft zieht aber nun nicht nur den Effekt nach sich, dass von einem einheitlichen Wertsystem als gesellschaftliche Klammer schon lange keine Rede mehr sein kann. Weswegen plötzliches Auftauchen von Issues, drastisches Bewerten dieser und extrem kurze Diskurszeiträume kaum überraschen. Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft ist das Phänomen der Ausdifferenzierung des Mediensystems als Teil der Gesellschaft ebenfalls zwangsläufig. Und somit auch die Polarisierung der Berichterstattungen: Wenn Imhof mit Bezug auf Kepplinger eine allgemein gleichförmig skandalisierende Berichterstattung über die Wirtschaft als Ergebnis der Ausdifferenzierung des Mediensystems feststellt, gibt dies ebenso zu denken wie sein Hinweis, heutige Selektions- und Interpretationslogiken der Massenmedien verfolgten nicht das Erklären von Verhältnissen, sondern das Gegenüberstellen von Helden und Bösewichten (vgl. Imhof, 2013, S. 85). All das erschwert Kommunikation in Situationen, die als rhetorische Krisen zu bezeichnen sind. Krisenkommunikation, so könnte man überspitzt formulieren, verwandelt sich zu einem unwägbaren Herumlaborieren an Symptomen gesellschaftlicher Widersprüche, deren durch sie erzeugte Dissonanzen mithilfe eruptiver Empörung verschiedener Stellvertretergruppen nach Linderung suchen.
Das bedeutete auch, dass die Wahl auf ein Empörungsobjekt aus subjektiver Sicht rein zufällig fiele und Issues gesellschaftlicher Irrationalität folgten. Und eben nicht dem Muster eines öffentlichen Diskurses, an dessen Ende Kompromisse als Lösungen akzeptiert würden. Symbolisch dafür steht ein Shitstorm, den die ING-Diba im Jahr 2011 einfach aussaß: Die heftige Diskussion (es ging um die moralische Frage von Fleischverzehr) über einen Werbespot währte gerade einmal 15 Tage. Hofmann zufolge habe das Unternehmen richtig gehandelt: abgewartet, nicht aufgebauscht – und das Interesse versiegte (vgl. 2013, S. 346-348). Dieses Beispiel und viele weitere – quasi wöchentlich wird ein neues Thema skandalisiert – lässt befürchten: Jedwede Gegenreaktion eines Unternehmens, eines Politikers, eines beliebigen Akteurs auf eine Skandalisierung kann sich kontraproduktiv auswirken, da sie aus sich selbst heraus unnötig ein Issue weiter verstärken kann: Denn irgendjemand wird sich in einer Gesellschaft, die sich selbst auf Basis von Mikro-Wertsystemen und Partikularinteressen auseinanderdividiert, immer missachtet, beleidigt oder im eigenen Werte- und Normengefüge verletzt sehen, wie Soziale Medien mit ihren Meinungsblasen eindrucksvoll beweisen. Dies selbst dann, wenn schnell und offen eine Entschuldigung erfolgt. Womit die Grundprinzipien der Krisenkommunikation zu einem gewissen Grad ihre Wirkung verlieren.
Doch: Wie in einen konstruktiven Dialog eintreten? Vor allem wenn Stakeholder immer häufiger nur im Web ansprechbar sind, das gerade aufgrund stark einschränkender Formalisierung, Emotionalisierung und Einweg-Moralisierung kaum echte Diskurse ermöglicht? Und Massenmedien mehr und mehr tendenziöses Einordnen und Kommentieren zu ihren Kernaufgaben erheben?
Die Fachliteratur hierzu bietet wenig bis gar nichts: Zwar verwandelte sich das Issue-Monitoring und Issue-Management in den letzten Jahren zu einer eigenen wissenschaftlichen Subdisziplin. Doch echte Lösungen werden lediglich für Krisen im Sinne von Havarien, Straftaten etc. gegeben. Vielleicht noch für naives Fehlverhalten im Netz (z. B. im Falle unangemessener/falsch platzierter Werbung), nicht vorsätzliche Fehlinformationen oder Vergleichbares. Für tiefgreifende, stark emotional aufgeladene Werte- und Normendiskussionen im Sinne rechtlich einwandfreien Handelns, das von bestimmten gesellschaftlichen Teilgruppen als moralisch verwerflich definiert wird, bietet die Literatur weder Tipps noch Tricks. Kein Wunder: implizierten diese nicht automatisch bestimmte Werte und Normen der Autoren?
Doch bleibt man nicht nur auf dieser Ebene eher ratlos zurück. Auch allein die Tatsache, dass der VW-Konzern trotz aller „Mauscheleien“ nicht gerade an einer Pleite vorbeigeschrammt ist, zeigt: Auch ob Reputationsverlust tatsächlich zu größeren wirtschaftlichen Schäden führt, erscheint fast zufällig. Sind Gruppen, die bestimmtes Handeln verurteilen, nicht mit jenen, die Sanktionsmacht ausüben (können), identisch – so relativiert sich jede Werte- und Normendiskussion. Vor allem, wenn eine Marke (die letztlich auch eine natürliche Person sein kann) derart stark ist, dass sie per se Werte- und Normendiskussionen nicht zu fürchten braucht. Man erinnere hier an Modekonzerne, die von jahrelangen Diskussionen um das Thema Fast Fashion im Grunde kaum tangiert werden. Oder Spitzenpolitiker, die trotz „Fehlverhalten“ um ihre Ämter nicht bangen müssen. All diese Beispiele illustrieren, dass rhetorische Krisen stets in unterschiedlichem Maße Akteure umfassen, die „Fehlverhalten“ nicht als Fehlverhalten deuten oder erkennen (wollen). Es zeigt ebenso, wie schwierig es ist, außerhalb des Rechtsrahmens Recht-Haben zu definieren. Und wie unvorhersehbar die Entwicklungen von vor allem sozialen Issues sind. Demzufolge ist auch deren Einfluss auf Sanktionen durch die Gesellschaft oder bestimmter Gruppen nicht zu prognostizieren.
Insofern ist die Akzeptanz des Shitstorms als Phänomen, das grundsätzlich und rein zufällig jeden treffen kann, ein erster Schritt zu mehr Gelassenheit, die der gesamten Gesellschaft durchaus zugute käme. Das ING-Diba-Beispiel zeigt: Ruhe bewahren ist der bessere Weg als zu einem aggressiven Gegenschlag auszuholen. Und eine angestoßene Werte- und Normendiskussion anzunehmen, bedeutet nicht zwangsläufig um die moralische Deutungshoheit zu ringen. Vielmehr sollte gerade heutzutage berücksichtigt werden, dass Werte und Normen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können. Sie nicht unumstößlich sind. Und, wie der Kölner sagt, jeder Jeck anders ist. Kommen wir alle nicht endlich weg von der fixen Idee des öffentlichen Prangers einerseits und dem sofortigen Einschalten von Spindoktoren, PR-Agenturen sowie das Umsetzen groß angelegter Rechtfertigungskampagnen als Gegenreaktion auf auch nur leise geäußerte Kritik andererseits – wird das baldige Ergebnis sein: eine Gesellschaft, bestehend aus sich gegenseitig missionierenden Gruppen, die allesamt ihre jeweils eigene Moral über die der anderen stellen …
Literatur
Luhmann, Niklas (1970): Öffentliche Meinung. In: Politische Vierteljahresschrift. 11. Jg. (1970), Nr. 1, S. 2-28.
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