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Krisenrhetorik – was ist das eigentlich?

Krisenrhetorik – was ist das eigentlich?

Rhetorik, Grundlagen
Rhetorik-Grundlagen

Krisenrhetorik wird meist mit Krisen-PR gleichgesetzt. Doch beschränkt sich Krisenrhetorik nicht auf den Einsatz klassischer PR-Instrumente im Rahmen von Havarien oder Unternehmensschieflagen. Vielmehr untersucht die Krisenrhetorik das Wesen einer Krise, um auf sie angemessen kommunikativ reagieren zu können. Dabei ist eine Krise kein Schreckens-phänomen. Sondern lediglich der Anfang von etwas Neuem. Schauen wir uns den Begriff Krisenrhetorik etwas genauer an.  

1 Krisenrhetorik – eine Begriffsannäherung

Unternehmen, Organisationen und Institutionen sind in Krisensituationen einem teils enormen Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck ausgesetzt. Intern – wie extern. Extern vor allem wenn Medien eine Krisensituation beschreiben und sie unter Umständen damit verschärfen. Viele wirtschaftliche oder politische (Fehl-) Entscheidungen, die früher unter Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit vorgenommen und stillschweigend akzeptiert wurden, sind schon lange angesichts einer stark sensibilisierten Bevölkerung und sehr wachsamen Medien so nicht mehr möglich. Eruptive Hysterie mag dabei der falsche Weg sein. Doch sind Überreaktionen auch eine Folge epischer Lebensmittel- und Dieselskandale. Sich seit Jahrzehnten wiederholende falsche Kommunikationsmuster, bestehend aus Salamitaktiken und Lügen, sind der Ursprung für jenen Alarmismus, der uns heutzutage nicht selten nervlich strapaziert. Was ist nun aber Krisenrhetorik? Profit- wie Non-Profit-Organisationen sind in Krisensituationen gezwungen, auf Vorwürfe von internen oder externen Öffentlichkeiten zu reagieren. Was nichts anderes als eine Art Vorwurf-Rechtfertigungsinteraktion darstellt.

2 Der Begriff Krisensituation – rhetorisch betrachtet

„Die rhetorische Krisensituation ist eine öffentliche, häufig medial vermittelte und gestaltbare Umbruchsituation, die sowohl einen längeren Prozeß als auch einen Wendemoment meint, von dem aus durch Akzeptanz-, Vertrauens- und Legitimations-, kurz: Zustimmungsmangel in nicht wahrheitsfähigen Sachfragen ein unhinterfragliches ‚Weiter so‘ für eine Gemeinschaft keine Option mehr darstellt.“ So sehen den Begriff rhetorische Krisensituation die Bildungswissenschaftlerin Annika Goeze und die Kommunikationswissenschaftlerin Korinna Strobel in ihrem Aufsatz „Krisenrhetorik“ aus dem Jahr 2010. Übrigens einem der wenigen wissenschaftlichen Beiträge zum Thema Krisenkommunikation, der sich nicht schwerpunktmäßig auf Aspekte der Krisen-PR konzentriert. Sondern auf die rhetorischen Aspekte von Krisen.

Legen wir diese Definition zugrunde, ist das zentrale Charakteristikum der Krise ein Ausnahmezustand in Verbindung mit einer Fortbestandsgefährdung für eine Gemeinschaft, eine Organisation, Institution oder ein Unternehmen. Das heißt: Aus einer sicheren Angelegenheit wird eine zweifelhafte, „die ein kritisches ‚Unterscheiden‘‚ ‚Ausscheiden‘ und ‚Entscheiden‘ nötig macht, um zu bestimmen, welche Reaktion auf diesen Bruch des bisherigen Handlungsmusters folgen sollte“, wie Goeze und Strobel erläutern. Die rhetorische Krisensituation setzt sich ihnen zufolge zusammen aus einem „inhärenten Widerstreit“ und „das Aufeinandertreffen agonaler Kräfte“. „Diese Kräfte ringen um die letztgültige Entscheidung in die eine oder andere Richtung mittels allgemeinverständlicher Rede und Gegenrede vor einer maßgeblichen, öffentlichen Urteilsinstanz. Dabei agieren sie unter Evidenzmangel und Handlungszwang. Da hier zugleich aus kollektiver und subjektiver Sicht existenzielle Werte zur Disposition stehen, die irreversibel geschädigt werden könnten, kennzeichnet die Redner eine deutliche Überzeugungsabsicht.“

Krisenrhetorik – Rhetorik in der Krise
Abb.: Eine typische Krise: Zweifel, wenig Spielraum – und Handlungsdruck …

Zu diesen Ausführungen passen die überlieferten Überlegungen eines Aristoteles (griechischer Philosoph, *384 v. Chr.; † 322 v. Chr.), der das Ungewisse als das Reich der Rhetorik bestimmt. Damit sind die Ungewissheiten beim Entscheiden, Festlegen, Vereinbaren oder Vorschlagen gemeint, die jeder Kommunikationssituation innewohnen. Dafür hält Aristoteles auch eine Begründung parat: „Über das, was nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, beratschlagt niemand (…), das bringt ja nichts mehr ein.“ Insbesondere eine Krise (und damit Krisenrhetorik) basiert auf Zweifeln: Zweifeln an einer wie auch immer gearteten Ausgangssituation – und Zweifeln an Handlungsalternativen, weil der Krisenausgang nicht vorhersehbar ist. Schlimmer noch: Die möglichen Krisenverläufe und Resultate sind unumkehrbar – eine Krise kann sich alleine de facto nicht zurückentwickeln. Zudem stehen die angenommenen Auswegmöglichkeiten meist gegensätzlich einander gegenüber, was die Krisenrhetorik nicht gerade vereinfacht. Erschwerend kommt jener Handlungsdruck hinzu, der das Abwarten und Beobachten unmöglich erscheinen lässt, weil Krisen in sich existenzbedrohend erscheinen. Der dadurch entstehende Zeitmangel lässt auch die Beseitigung von Informationsdefiziten kaum zu. Zweifel beziehungsweise Beweismangel und Handlungsdruck prallen demnach zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt aufeinander. Mit diesen beiden Elementen sind unter Berufung auf den Philosophen Hans Blumenberg (* 13. Juli 1920; † 28. März 1996) die Voraussetzungen der rhetorischen Krisensituation geschaffen. Goeze und Strobel meinen mit Bezug auf Blumenberg dazu: „Eine Krise ist demnach eine aufs Äußerste zugespitzte, durch ihre besondere Dramatik herausgehobene rhetorische Situation. Unter derartigen Umständen kommt die Leistung der Rhetorik besonders zur Geltung, welche darin besteht, auch unter Ungewißheitsbedingungen kollektive Handlungsfähigkeit herzustellen.“

3 Aufgabe der Krisenrhetorik

Die Aufgabe des Redners in der Krise ist also die Herstellung von Handlungsfähigkeit. Mit den Mitteln der Rhetorik, weil sie dort voll zur Geltung kommt, wo auf der Sachebene die größten Zweifel und Reibungsflächen zu finden sind. Der rhetorische Wettbewerb um Ideen zur Krisenbewältigung und um das Nutzen von verbliebenen beziehungsweise erkannten Handlungsspielräumen wird so zu einer außerordentlichen Kreativanstrengung. Trotzdessen muss der Grundsatz dominieren, dass Krisen – wenn auch in unterschiedlichem Maße und abhängig von ihrer Vehemenz – mit Vernunft steuerbar sind. Sind sie dem ersten Empfinden nach auch noch so ausweglos. Und wo sich keine Möglichkeiten zur kommunikativen Ausgestaltung und Steuerung bieten? Ist es die Pflicht, zumindest das Schadensrisiko und die Ängste der Menschen, die mit Krisen stets einhergehen, zu minimieren. Und das zu vertreten, was keine Fehldeutungen zulässt und unmissverständlich ist. Rede und Gegenrede müssen sich dem Abbau von im Publikum existierenden Zweifeln unterordnen. Die dann Raum für aufkeimende Sicherheit und Verlässlichkeit freigeben.

4 Krise als Chance für Neues

Wirtschafts- wie Regierungskrisen können stabilisierende Effekte nach sich ziehen. So regulieren Wirtschaftskrisen Überproduktionen oder Geldmengen, was den Fortbestand marktwirtschaftlicher Systeme sichert. Selbst der politischen Krise nach der Bundestagswahl 2017 sollten positive Aspekte abgewonnen werden: Das Scheitern der Jamaika-Sondierungen war eine logische Konsequenz aus zu großen Kompromissen und permanenten Indiskretionen. Eine stabile Regierung hätte es so oder so nicht geben können, weil von Anfang an Vertrauen verspielt wurde. Aus der anfänglichen Sondierungseuphorie entwickelte sich quälende Unsicherheit, die durch den FDP-Ausstieg abrupt beendet wurde. So entstand eine neue, eindeutige Situation, eine neue Ordnung. Der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter (* 8. Februar 1883; † 8. Januar 1950) sah in Krisen zyklisch auftretende, unvermeidliche Vorgänge der Selbstregulierung von Systemen. Oder als Allgemeinplatz formuliert: Jedem Aufschwung wohnt auch ein Abschwung inne. Biologische Metaphoriken von Gedeih und Verderb, vom Aufblühen und Verwelken oder von Geburt und Tod fallen einem dazu schnell ein. Der Allgemeinplatz der Krise als notwendiges Übel erscheint weniger ironisch, wenn eine Krise als wertvolle Katharsis oder Wiederbelebung in bestimmten Zyklen verstanden wird. Dann nämlich ist ein anhaltender krisenfreier Zustand ein Rückschritt, weil nichts Neues entstehen kann. Ist Monotonie die Ursache für Verfallserscheinungen eines Sytems – zieht das wiederum automatisch eine Krise nach sich.

Leben im Wohlstand kann korrumpierende Wirkungen freisetzen. Das wussten bereits die Lehrmeister der Antike wie der römische Geschichtsschreiber Gaius Sallustius Crispus (* 1. Oktober 86 v. Chr.; † 13. Mai 35 oder 34 v. Chr.), der sich sehr deutlich über die Politik seiner Zeit äußerte: „Denn anstelle von Anstand, Zurückhaltung und Tüchtigkeiten herrschten Dreistigkeit, Bestechung und Geiz vor. Und obwohl mein Sinn, solche schlechten Machenschaften nicht gewohnt, diese verabscheute, wurde mein noch zartes Alter, verdorben von Ehrgeiz, inmitten solch großer Laster festgehalten.“ Vieles also, worüber man sich täglich ärgern mag – seien Nachrichten auch noch so trist –, ist wohl nie anders gewesen. Es zeigt: Krisen, egal wie bedeutend oder tragisch für den Einzelnen, sind letztlich etwas Positives. Denn sie können – richtig verstanden, freiheitlich-demokratisch verhandelt und von Einsicht begleitet, Kräfte für Neues freisetzen, was Altes bald vergessen macht …

 

Weiterführende Literatur

Bonß, Wolfgang (1995): Vom Risiko. Unsicherheit und Gewissheit in der
Moderne. Hamburg: Hamburger Edition.

Glasl, Friedrich (2004): Konfliktmanagement. Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater. Bern: Haupt.

Ingenhoff, Diana (2004): Corporate Issues. Management in multinationalen Unternehmen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kahneman, Daniel/Tversky, Amos (1979): Prospect Theory: An Analysis of
Decision under Risk. Cleveland, Ohio: Econometrica.

Luhmann, Niklas (2009): Die Realität der Massenmedien. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Strobel, Korinna/Goeze, Annika (2012): Krisenrhetorik. In: Historisches
Wörterbuch der Rhetorik. Ergänzungsband 10. Hg: Ueding, Gert.
Berlin: De Gruyter.

Wienand, Edith et al. (2005): Kommunikation über Kommunikation.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

 

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