Rhetorik und Manipulation
Rhetorik ist mehr als reden: Sie ist kommunikatives Handeln. Aber nur wenn Manipulation, Unredlichkeit ausgeschlossen werden kann, handelt der oder die Sprechende ethisch. Wo aber verläuft die Grenze zwischen Rhetorik und Manipulation?
Die kommunikativen Gesetzmäßigkeiten stützen sich auf jahrhundertelange Empirie: All das, was Sozial- und Wahrnehmungspsychologie, Pädagogik, Kommunikationswissenschaften und Soziologie in den letzten Jahrzehnten dazu erforscht haben, bestätigt nur das, was die alten Griechen und Römer längst wussten. Und was Religionen für sich nutzten, Demagogen missbrauchten – aber auch kluge Köpfe wie Kennedy, Brandt, King, Gandhi erkannten, um mit Worten die Welt zu verändern. Rhetorik ist in demokratischen Umgebungen oder Überzeugungsprozessen besonders wünschenswert: Demokratie braucht Rhetorik, Rhetorik ist ihr Motor. Die Annahme einer persuasionsfreien Welt ist eine Illusion. Wo aber liegt die Grenze zwischen Rhetorik und Manipulation?
Die Grenze zwischen Rhetorik und Manipulation
Manipulation beschreibt jene Rhetorik, die sich Erkenntnisse der Kommunikation und Psychologie zunutze macht, um unredliche, unethische Ziele zu verfolgen. Insofern gilt:
Manipulation = Persuasion (Überzeugen) plus Unredlichkeit
Die Rhetorik selbst ist für Manipulation freilich nicht verantwortlich. Wohl aber der Sprecher mit seinem Weltbild. Rhetorik und Manipulation ist demnach niemals per se gleichzusetzen, wie viele Berufspessimisten behaupten. Wohl aber ist Rhetorik jener Dynamikfaktor der Kommunikation, der dem Sprechenden Manipulationen ermöglicht. Manipulation kann also Sprechenden vorgeworfen werden, niemals der Rhetorik.
Das ethische Dilemma der Rhetorik, die Trennung von Rhetorik und Manipulation, hat wohl jeden großen Philosophen beschäftigt: Braucht eine logisch aufgebaute Beweisführung aufgrund vorhandener Fakten Glaubwürdigkeit erzeugende, bisweilen emotionalisierende Mittel? Der Philosoph Aristoteles (* 384 v. Chr.; † 322 v. Chr.) schlug eine formale Trennung der Ethik von der Rhetorik vor. Doch wird durch die auf Glaubwürdigkeit zielenden Überzeugungsmittel diese Trennung in der Rede automatisch aufgehoben. Insofern ist das Redner-Ethos die Ausgangsbasis für jede Rede. Wo für Sie persönlich Überzeugung aufhört und Manipulation beginnt – liegt in Ihrem Ermessen. Und in Ihrer Verantwortung.
Postfaktisch oder Fakteninterpretation?
In der Verantwortung des Sprechenden liegt auch, dass seine Interpretation von Fakten nicht zum Postfaktischen wird. Dass viele Politiker diese Verantwortung zuletzt vernachlässigten, ist vielleicht der Grund, warum die Gesellschaft für deutsche Sprache „postfaktisch“ am 9. Dezember 2016 zum Wort des Jahres wählte. Der Begriff unterstellt, dass zumindest in Teilen der Gesellschaft Emotionen in ihrer Bedeutung Fakten überholt hätten. Was bedeutet: Emotionen, Spekulationen oder Meinungen würde mehr geglaubt als Tatsachen. Auch hier taucht die Frage auf: Wo liegt die Grenze zwischen Rhetorik und Manipulation?
Das Institut, ob gewollt oder ungewollt, hat mit seiner Wahl Diskussionen ausgelöst, die selbst höchste Vertreter des Staates veranlassten Statements abzugeben: Bundeskanzlerin Merkel sagte, sie müsse den Begriff erst einmal in ihren Wortschatz aufnehmen. Während Martin Schulz das Wort gänzlich ablehnt.
Ist der Mensch ein nichtfaktisches Wesen?
Demgegenüber stellte Friedrich Nietzsche (* 15. Oktober 1844; † 25. August 1900) seinerzeit fest: Gesellschaftliches Denken werde mehr von der
Interpretation als vom Faktischen beeinflusst. Deutungen waren es, die für ihn eine entscheidende Rolle für die Konstitution gesellschaftlicher Realität spielten. Hinzu kommt infolge der Ergebnisse moderner Hirnforschung die Einsicht, dass Emotionen in viel stärkerem Maße das Verhalten von Menschen beeinflussen als lange Zeit angenommen. Und die Vorstellung von rein rationalem Abwägen und Handeln des Menschen nicht aufrechtzuerhalten ist, wie beispielsweise der Hirnforscher Gerhard Roth regelmäßig betont. Für das Schreiben von Reden galt schon immer: je (scheinbar) seriöser die Quellen, desto akzeptabler die Fakten. Je besser Ruf, Leumund, Image der Quellen, desto schlagkräftiger die Argumentation. Was bedeutet: Die Kommunikationswirkung einer Rede ist recht unabhängig von der Richtigkeit der Fakten. Ist nicht der Mensch an sich ein nichtfaktisches Wesen?
Das wäre kaum der Rede wert. Wenn aber sich zu Adressaten nun auch in der Verantwortung stehende Redner – Politiker – gesellen, die das „Faktoid“ (Eduard Kaeser (* 1948 in Bern), Schweizer Physiker und Philosoph in der Neuen Zürcher Zeitung am 22. August 2016) dem Faktum vorziehen, wenn das Bewirtschaften von Launen und gefühlte Fakten auch für sie wichtiger sind als Tatsachen, dann löst sich der unsichtbare „Rationalitätsvertrag“ zwischen Redner und Publikum, wie ihn der Germanist und Rhetoriker Karl-Heinz Göttert (* 25. Februar 1943) beschreibt, gänzlich auf. Dann ist auch die Grenze zwischen Rhetorik und Manipulation nicht mehr vorhanden.
Woran man Manipulation erkennen kann
Daher ist die Quellenreferenz heute wichtiger denn je. „Rationalität stellt sich nicht von selbst ein. Sie muss vertreten werden. Und vertreten wird sie durch den Redner“, stellte Göttert am 17. Juli 2015 gegenüber dem Tagesspiegel fest. Und sagte weiter, dass Normen im Für und Wider erstritten würden, es zu jeder Behauptung eine Gegenbehauptung existiere. Folglich gebe es Gültigkeit nur im Streit oder auch Wettstreit der Meinungen. Meinungen werden also mit Gründen und Quellen vertreten. Selbstverständlich verleiht ein guter Redner seinen Gründen durch Dramaturgie und Stilmittel zusätzliches Gewicht. Ohne aber dabei das Angemessenheitspostulat zu übersehen und ohne dabei die Gesetze der Redlichkeit mit Füßen zu treten. Argumentation ist stets der Versuch, Beweise auf Basis der Vernunft anzuordnen, um ihnen schließlich Geltung zu verschaffen. Sofern sich die Anzeichen verdichten, rednerische Vernunft käme abhanden, die Gefühlswelt nähme überhand, kommt man dem nahe, was als postfaktisch verstanden wird. Sich aber schon immer im Wort Manipulation ausdrückte. Und die lässt sich leicht erkennen an:
- Verkürzungen, extremen Zuspitzungen in Parolen
- fehlender Verstehensbemühung gegenüber anderen Standpunkten
- fehlender analytischer Erkenntnis und dominierender Einwegperspektive
- fehlender Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität, zwischen
Fantasie und Fakten - fehlender Einordnung von Einzelbeispielen (richtiges Zerlegen und
Zusammenfügen von Kontexten bildet die ethische Integrität einer Rede) - mangelnden Differenzierungen und Analysen, an deren Stelle die
Instrumentalisierung von Ansichten tritt - manipulativer Auslegung von Einzelheiten
- dem Weglassen von Quellen und Zeiträumen
- übermäßigem Einsatz der Übertreibung und Skandalisierung
- der Überstrapazierung des Induktivischen (Rückschlüsse und Allgemein-
gültigkeit aufgrund von überwiegend skandalisierten Einzelbeispielen) - dem Abdriften in hochsachlichen Redepassagen in unzutreffende,
ablenkende oder verschleiernde Metaphern - Unterstellungen, die zu Verallgemeinerungen führen, die bei näherer Betrachtung eine bestimmte gesellschaftliche (Opfer-) Gruppe zum Maß aller Dinge stilisiert
In diesem Sinne: Bleiben Sie kritisch. Vor allem gegenüber Rhetorik-Ratgeberliteratur, die nach dem Motto „manipulieren – aber richtig“ funktioniert …